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„Schule gegen Rassismus. Schule mit Courage“ – die SMV lud zum Zeitzeugengespräch mit 94-jähriger Karla Spagerer

„Schule gegen Rassismus. Schule mit Courage“ – die SMV lud zum Zeitzeugengespräch mit 94-jähriger Karla Spagerer

„Erst machen sie alles kaputt, dann verlangen sie noch Geld dafür“, sagt die damals 9-jährige Karla Spagerer, als sie am Tag nach der verhängnisvollen Reichspogromnacht 1938 mit ihren Eltern in der Mannheimer Innenstadt die Verwüstung betrachtet. Soldaten stehen vor der zerstörten Synagoge und verlangen Eintritt von den vielen Schaulustigen. Schnell halten ihre Eltern ihr den Mund zu und führen sie fort vom Ort des Grauen, denn unter der Herrschaft der Nationalsozialisten sind solche Aussagen gefährlich.
Heute ist Karla Spagerer beachtliche 94 Jahre alt und besucht in Begleitung von Dr. Stefan Fulst-Blei, Landtagsabgeordneter der SPD, Schulen und andere Einrichtungen, um von ihren Erlebnissen während der Hitler-Diktatur zu erzählen und die Jugend aufzurütteln. Sie will, dass die Juden und alle anderen Verfolgten und Ermordeten nie vergessen werden und warnt davor, dass sich die Vergangenheit wiederholen kann: „Setzt euch mit der Geschichte auseinander und ruft euch immer wieder ins Gedächtnis was passiert ist. Lernt aus den Fehlern!“, ruft sie die aufmerksam lauschenden Schülerinnen und Schüler der St. Raphael Schulen auf.
Bereits zum zweiten Mal ist Karla Spagerer Gast an unserer Schule, 2019 war ihr erster Besuch. Organisiert ist das Zeitzeugengespräch im Rahmen des „Schule ohne Rassismus. Schule mit Courage“-Projekts von der SMV und Matthias Kneller, unserem Verbindungslehrer. „Uns läuft die Zeit davon“, sagt dieser und das stimmt. Die Mannheimerin ist noch ungewöhnlich fit für ihr Alter und dennoch tut sie sich etwas schwer damit, die Stufen zur Aula hochzusteigen. Bald wird es niemanden mehr geben, der von seinen Erfahrungen während des Nationalsozialismus erzählen kann. Deshalb ist es Karla Spagerer besonders wichtig, mit den Jugendlichen zu reden, denn sie sollen die Geschichten weitertragen. Gespannt warten heute alle 9. Klassen sowie einige Kurse der KS1 auf ihre Berichte.
Frau Spagerer lebte in einer kommunistischen und damit politisch verfolgten Familie und unter anderem ihre Großmutter unterstütze die Mannheimer Widerstandsgruppe Lechleiter. Damit ist sie vermutlich die letzte Zeitzeugin, die Mitglieder dieser Gruppe kannte. An vieles erinnert sie sich zwar nicht, denn sie war noch zu jung, um wirklich zu verstehen, was vor sich ging und ihre Eltern bemühten sich darum, ihrem Kind eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen und sie aus den politischen Machenschaften herauszuhalten, dennoch hat sie einige prägende Erinnerungen. So zum Beispiel die Verhaftung ihre Großmutter durch die Gestapo im Jahr 1936. 18 Monate Zuchthaus lautete das Urteil für sie, schuldig war sie, weil sie Geld und Lebensmittel für die Familien der Widerstandskämpfer sammelte. Später wurde Karla Spagerer losgeschickt, um für ihre Mutter, Großmutter und Frau Lechleiter ein ausgehängtes Plakat über das Schicksal der Männer der Widerstandsgruppe zu lesen. Für die Frauen war es zu gefährlich das Haus zu verlassen, und so musste das kleine Mädchen die Hiobsbotschaft verkünden: Hingerichtet. Sogar an das genaue Datum erinnert sie sich, der 15. September war es, erzählt die heute 94-jährige. Diese und andere traumatische Ereignisse nahmen ihr die sorglose Kindheit. „Wir mussten viel früher reif sein als heutige Kinder“, meint Karla Spagerer.
Ihr Vater wurde bereits zum Anfang des 2. Weltkriegs in die Wehrmacht eingezogen und landete in russischer Kriegsgefangenschaft. Davor arbeitete er in einer jüdischen Firma, die Familie war befreundet mit den Betreiberinnen. Nach der Reichspogromnacht versuchten sie, die beiden Frauen zu finden, vergeblich. Stattdessen sah die damals 9-jährige, wie verzweifelte Juden aus ihren zerstörten Wohnungen und Geschäften gezerrt und abgeführt wurden. Was mit ihnen passierte, erfuhr man erst später. Das Schicksal der Firmenbesitzerinnen ging Karla Spagerer nie aus dem Kopf, 80 Jahre später erfuhr sie, dass die beiden Schwestern in einem KZ umgebracht wurden. Nie soll sich die Gewalt der Pogromnacht wiederholen und nie vergessen werden. Ein Tag, der sich ins Gedächtnis der Zeitzeugin einbrannte.
Am 28.3.1945 drangen die Amerikaner nach Mannheim vor und der Krieg war vorbei. Wer noch ein Zuhause hatte, konnte zurückkehren, doch das Glück hatten die wenigsten, 80 Prozent von Mannheim waren zerstört. Karla Spagerer erzählt von Hoffnungslosigkeit und Leere angesichts von dramatischen Verlusten – und zieht Parallelen zum Krieg in der Ukraine. Wer sowas nie miterlebt hat, kann nicht nachvollziehen, wie schrecklich sich das anfühlt, gerade deshalb appelliert sie zu Solidarität und Mitgefühl gegenüber allen Vertriebenen.
Nach den eindrücklichen Schilderungen der Mannheimerin ist Raum für Fragen der Schülerinnen und Schüler. So interessiert sich eine der Jugendlichen dafür, ob sie selbst, als Kind aus einer kommunistischen Familie, schlechter als andere in ihrem Alter behandelt wurde. Ihre Antwort beginnt sie mit der Klarstellung, dass sie selbst heute Sozialdemokratin und nicht Kommunistin ist, dann erzählt sie, wie einer ihrer Lehrer sie immer auf dem Kieker hatte, sie regelmäßig verletzt und zum Weinen gebracht hat. Ihre Mutter wusste davon, erinnert sie sich, aber konnte ihr nicht helfen. Außerdem redet die 94-jährige über ihre Zeit beim „Bund Deutscher Mädel“. Sie war gerne dort, im Gegensatz zu den Jungen in der Hitler-Jugend wurden die Mädchen nicht politisch, sondern zu Hausfrauen erzogen und sie genoss die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen.
Nach weiteren Fragen erzählt sie von ihren Kriegserfahrungen. „Irgendwann lebten und schliefen wir eigentlich nur noch im Bunker“, schildert Karla Spagerer. Sogar ein Kind kam während einem ihrer Aufenthalte im sicheren Luftschutzkeller auf die Welt. Wenn die Christbäume, von den Alliierten genutzte Scheinsignalraketen, vom Himmel fielen musste man rennen, einmal entkamen sie und eine Freundin nur knapp den Bombern, erinnert sie sich.
Ein Schüler erkundigt sich, ob die Zeitzeugin denn jüdische Freunde gehabt hatte. Dies verneint die 94-jährige, doch sie berichtet von einem Jungen und seiner mit ihren Eltern befreundeten Familie. Sie erinnert sich daran, dass er und weitere jüdische Jungen während eines Urlaubs im Wald schlafen mussten, wohingegen sie in einer Jugendherberge untergebracht war. Damals verstand sie den Grund dafür nicht, heute weiß sie, dass das die ersten Formen der Ausgrenzung der Juden waren. Auch an ihn hat sie immer gedacht, erzählt sie und sich nach seinem Schicksal gefragt. Später hat sie erfahren, dass die Familie fliehen konnte und in Sicherheit lebt. Genau wie seine Geschichte und das Schicksal der beiden Firmenbesitzerinnen, möchte die die 94-jährige, dass jedes Leben der Leidenden in Erinnerung bleibt und hat mit ihren eindrücklichen und bewegenden Erzählungen bei uns einen Teil dazu beigetragen.
Heute, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, blickt Karla Spagerer besorgt auf die politische Entwicklung in Deutschland. Sie warnt vor dem Erstarken rechtsextremer Parteien wie der AfD und ruft dazu auf, sich aktiv gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu engagieren. Ihre bewegende Lebensgeschichte ist ein Appell an unsere Generation, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und für eine bessere Zukunft einzutreten. Wir bedanken uns sehr herzlich für ihre Zeit und dafür, dass sie ihre berührenden und erschütternden Erinnerungen mit uns geteilt hat.
Ljuba Arnold (KS1) für die SMV

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